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Faszinierende Fotos als Psychogramme
  Greifswalder Photograph zeigt New Yorker in einer Ausstellung der Rostocker Nikolaikirche
Von unserem Mitarbeiter Jürgen Tremper

Rostock. New York, Wall Street. Ein Uniformierter lehnt sich gelangweilt auf die Klinke einer geöffneten Tür. East 72nd Street. Ein Mann schaut unter die Motorhaube eines Autos. Dazwischen sind immer wieder eilende Menschen zu sehen.
107 Photographien in Schwarz-Weiß von Raymond Jarchow (Jahrgang 1956) zeigen im Saal der Rostocker Nikolaikirche ungewöhnliche Motive der amerikanischen Mega-stadt, aufgenommen im Frühjahr 2001. Nicht die gebaute Architektur oder berühmte Sehenswürdigkeiten interessieren den Photographen, der im Rechenzentrum der Greifswalder Universität seinen Arbeitsplatz hat, sondern Menschen auf den Boulevards, in Cafés, in der U-Bahn und anderswo.
Witz und Ernst, Tempo und Ruhe, Emotion und kühl kalkulierte Form sind Pole, zwischen denen sich die "Menschen in der Stadt-Bilder" bewegen. Jarchow faszinieren die Straßen als Schauplatz, als Bühne menschlichen Lebens. Er sitzt nicht still vor dieser Bühne und drückt irgendwann auf den Auslöser seiner Kamera, sondern nähert sich Motiven und Menschen einfühlsam an. Konzentration und Genauigkeit gehören zu dieser Art von Annäherung ebenso wie Neugierde und Respekt. Seinen künstlerisch ambitionierten Diskurs bestimmt vermutlich die Frage, wie leben Menschen heute in einer solchen Riesenstadt.
Der Greifswalder nimmt - wohl mehr unbewusst - mit seinen Bildern den Gestus der Straßenphotographie an. Er spürt dem Rhythmus der New Yorker im Alltag nach, wie sie aneinander vorübergehen, miteinander reden und vieles mehr. Seine Schwarz-Weiß-Aufnahmen fragen und untersuchen zugleich. Dennoch ist die Ausstellung weniger ein Stadtspaziergang, eher schon eine Führung zu den Innenwelten der New Yorker. Jarchow findet nicht nur die individuellen Gefühlslandschaften, sondern "übersetzt" sie in eine ganz eigene Bildsprache. Er geht mit seinen photographischen Kompositionen unkonventionelle, eben seine Gestaltungswege.

Tagebuchnotizen ergänzen

Jarchow pflegt einen "einfühlsamen Voyeurismus", beweist Geduld und setzt mehr auf ausdrucksstarke Charaktere als auf glatte Schönheiten. In der Ausstellung erzählt er: "Erst allmählich lösten sich aus der Menge einzelne Figuren. Sie bekamen ein Gesicht. Für diese Aufnahmen trug ich die Spiegelreflexkamera an einem kurzen Gurt vor der Brust und löste im Gehen aus ! Die kleine Contax hielt ich oft einfach nur in der Hand. Ich wollte ein Teil sein und die Bilder festhalten, die diesem Gefühl entsprachen."
So münden seine Erlebnisse in faszinierende visuelle Psychogramme, weit entfernt von zwanghafter Form-sterilität. Die Menschen erscheinen in ihrer Umgebung. Perspektiven und Blickwinkel wechseln.
Nicht alle Momentaufnahmen überzeugen oder erschließen sich sogleich, halten vor allem nicht ganz den Spannungsbogen vieler Sequenzen. Im Gesamtzusammenhang aber geben solche Ansichten oder viele Detailbilder durchaus ihre prickelnde Atmosphäre. Zwölf Tagebuchsequenzen von Claudia Lohse ergänzen vortrefflich die Bildinformationen. Die Frau des Autors vervollständigt - im besten Sinne des Wortes - die photographischen Ansichten mit ihren Gedanken und Gefühlen. So entfaltet sich vor dem Publikum der Bilderbogen einer ganz persönlichen Wahrnehmung der Menschen in New York. In acht Gruppen präsentiert der Photograph Straßenszenen, Paare, Portraits, Details, U-Bahn, Kinder, alte Menschen und seine Frau in New York. Die Besucher honorieren im Gästebuch durchgängig die fast einjährige Arbeit von Jarchow und Lohse an dieser Exposition. Katrin Meier spürt, "dass ihr Menschen liebt". Ein Rostocker ist "in mehrfacher Hinsicht fasziniert und betroffen". Eine Jutta schreibt: "Ich bin froh, hier gewesen zu sein, und gratuliere zu der gelungenen Arbeit." Was sie sicher nicht wusste, es ist die erste Ausstellung des Greifswalders. Und was für eine. Zugabe erwünscht. Tipp zum Wochenende: "New York - Fremde Vertraute". Nur noch heute und morgen, 13 bis 17 Uhr.

     

 
14.09.2002