DAS KONZEPT

 

 In der Ausstellung „New York – Fremde Vertraute“ werden 107 SW-Photographien und 12 Tagebuchsequenzen gezeigt. Die Bilder hängen in acht Gruppen:

 Straßenszenen, Paare, Portraits, Details, U-Bahn, Kinder, Alte Menschen, Meine Frau in NY

 Die Photos habe ich während eines achtwöchigen Aufenthaltes im April und Mai 2001 in New York aufgenommen. Es sind Bilder von Menschen auf der Straße, in Cafés, in der U-Bahn, … Bilder von Menschen in einer Großstadt. Da sind die Singles in einem Starbucks Coffeshop in der Columbus Avenue, das Paar, das sich auf der Ladefläche eines Blumentransporters in Midtown Manhattan umarmt, die alten Menschen, Einwanderer aus Rußland, in Little Odessa, einem Abschnitt fast am Ende der Flaniermeile auf Coney Island, der Junge auf dem elektronischen Schaukelpferd irgendwo in Brooklyn. Ich habe in den Menschen gesucht, was mir vertraut ist, den Ausdruck von Gefühlen, die an jedem Ort dieser Welt gleich sind: Einsamkeit, Sehnsucht, die Freude einer Begegnung. Letzten Endes habe ich meine eigene Befindlichkeit gesucht und Bilder, auf die ich meine Geschichten übertragen konnte.

 Fremd dagegen war mir die Dimension dieser Stadt. Zuerst sind da die Hochhäuser in Manhatten, die schwere Schatten auf die Straßenschluchten legen. Dann das Tempo auf der Straße und die Fußgänger mit ihrer Ruhelosigkeit ... essen, telefonieren und laufen gleichzeitig... keine Zeit verlieren, keine Zeit haben. Die Portraits sind häufig die von Außenseitern ... das Paar im Rollstuhl, der junge Punk, die alte Frau. Sie sind raus aus dem Rennen nach Geld und Fitneß und frei von dem weit verbreiteten Mißtrauen, ihr Bild könnte in einer Agentur landen oder bei ihrem Arbeitgeber. Und dann der Lärm, der überall hin dringt und alles überlagert ... jedes Gespräch. Selbst die Einsamkeit hat eine andere Dimension, wenn man von so vielen Menschen umgeben ist.

Ich war fasziniert von den ständig wechselnden Bildern und gleichzeitig beruhigte mich der Gedanke, daß mein Aufenthalt begrenzt ist und ich wieder in mein Zuhause nach Vorpommern zurückkehren werde.

 Die letzten beiden Wochen habe ich zusammen mit meiner Frau in New York verbracht. Mit ihr entstand für mich noch einmal ein anderes Sein in New York. Die Stadt wurde freundlicher. Im Bus sprach uns eine Frau an, um uns ihre Geschichte zu erzählen. Wir trafen Bill am Herald Square gegenüber von Macy's wieder, den wir tags zuvor im jüdischen Café Jerusalem II kennengelernt hatten. Oder das lange Frühstücken in der Küche unserer Gastgeber, Einwanderer aus Grenada. Die Gespräche mit ihnen und Eerons Kommentar „It needs Claudia to make him domestic.“ In den Wochen zuvor bin ich den ganzen Tag durch Manhatten, Brooklyn oder Queens gelaufen oder stundenlang mit der U-Bahn gefahren. Eeron klopfte hin und wieder früh an meine Tür, um mir das Telefon rein zureichen: „It's Claudia ...“. Ich kam gewöhnlich spät zurück und habe kaum jemand im Haus zu Gesicht bekommen. Hab mich treiben lassen immer auf der Suche nach Bildern. Mit Claudia und ihrem Rollstuhl haben meine Tage einen anderen Rhythmus bekommen und die Stadt ein anderes Gesicht. Und damit entstanden wieder andere Bilder.
 


 In Williamsburg, dem Stadtteil der orthodoxen Juden in Brooklyn, hätte ich ohne Claudia, die die Aufmerksamkeit so völlig auf sich zog, möglicherweise gar nicht photographieren können.
Aus ihrem Tagebuch hat Claudia einige Sequenzen für die Ausstellung ausgewählt.

 In der ersten Woche bin ich ohne Kamera herumgezogen, habe Eindrücke gesammelt und wollte einfach nur ankommen. Die ersten Aufnahmen zeigen häufig nur ein Detail - meist die Hände - und sparen die Gesichter aus. Das war die Empfindung des Anfangs ... der gesichtslose Menschenstrom, den Blick vorbei oder zu Boden gerichtet oder dösend in der U-Bahn. Im völligem Gegensatz dazu die Gesichter der Werbung ... überlebensgroß, sympathisch und „gut drauf“ waren sie stets zugewandt und verfügbar. Erst allmählich lösten sich aus der Menge einzelne Figuren und bekamen ein Gesicht. Für diese Aufnahmen trug ich die Spiegelreflexkamera an einem kurzen Gurt vor der Brust und löste im Gehen aus ... ohne das Bild im Sucher zu kontrollieren. Die kleine Contax hielt ich oft einfach nur in der Hand. Ich wollte ein Teil sein und die Bilder festhalten, die diesem Gefühl entsprachen ... und war doch vor allem der Beobachter von einem anderen Stern.

 Erst nach einigen Wochen entstanden auch Portraits, meist nach einem Gespräch. Ich brauchte einfach einige Zeit und die Erfahrung etlicher Zurückweisungen, um meinen Blick für Gelassenheit und Offenheit in den Menschen zu entwickeln, ohne die ein Posieren vor der Kamera nicht möglich ist. Offenheit heißt für mich nicht, den Grund der Seele freizulegen. Davor kommt immer noch eine von vielen Posen, die typisch für den jeweiligen Menschen sind und zu uns gehören wie die Farbe unserer Haare und der Abdruck unserer Finger.

 Für die Aufnahmen wurden eine Sucherkamera Contax T2, eine Spiegelreflexkamera Nikon F80 und eine Panoramakamera Noblex 135 S verwendet. Mein Standardfilm im Kleinbildformat war der Kodak TMAX 400. Im Bereich der U-Bahn habe ich den Fuji Neopan 1600 und für die Panoramen den Ilford XP 2 Super eingesetzt. Die Abzüge wurden auf Ilford Multigrade IV RC Portfolio angefertigt.

 Wir danken für die freundliche Unterstützung des Landes Mecklenburg-Vorpommern und der Hansestadt Rostock, ohne die diese Ausstellung nicht möglich gewesen wäre.

Epilog

 Ostern 2002 flog ich nach New York und war wieder Gast in Verbenas Haus in South Harlem. Ihr Sohn Eeron hatte am Vormittag des 11. Septembers einen Termin im World Trade Center. Er kränkelte und blieb im Bett ... glücklicher Junge. Ein junger Mann aus der Nachbarschaft kam ums Leben bei dem Anschlag. Verbena kaufte früher hin und wieder bei einem Händler in Chinatown Pillen mit einer wundersamen Kraft, die sie auch uns im letzten Jahr beim Frühstück anbot. Im Moment vermeidet sie jede Fahrt nach Lower Manhattan – „Ich will nicht daran denken ...“. Es war ein anderes New York, in das ich da zurückgekehrt bin.




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